Dieser Beitrag ist eine unvermeidliche philosophische Entgegnung, angeregt durch die Lektüre von Edward Slingerlands messerscharfer Analyse „The dangers of a sober society“ . Als jemand, der seine akademische Neigung (Software Engineering, Online Marketing) seit einem Vierteljahrhundert mit der empirischen Feldforschung hinter der Bar-Theke kreuzt, muss ich Slingerlands These nicht nur zustimmen – ich muss sie tagtäglich bezeugen und um eine Beobachtung aus der neuen Welt erweitern.
Slingerland liefert die wissenschaftliche Begründung: Das, was weithin als toxisches Laster verurteilt wird, ist in Wahrheit ein fundamentales, soziales Feature der menschlichen Zivilisation. Die eigentliche Gefahr unserer modernen Welt liegt nicht im maßvollen Rausch, sondern in der unreflektierten Anbetung der sterilen, unerbittlichen Nüchternheit. Ein Trend, der auffallend parallel zur Entstehung einer Generation verläuft, die Schwierigkeiten hat, die grundlegende Unordnung des Lebens und des Berufsalltags zu bewältigen. Wenn jede zweite E-Mail zur emotionalen Zerreißprobe wird und einen sofortigen Therapeuten-Termin erfordert, ist es zwingend, die Haltung einer ganzen Generation zu hinterfragen.
Die Fundamentale Grundlage des Konsenses: Der elegante Kniff der Authentizität
Slingerlands Verweis auf den römischen Historiker Tacitus ist eine intellektuelle Bestätigung. Die Germanen trafen ihre wichtigsten Entscheidungen im Zustand der Berauschung, denn: „Sie beraten, wenn sie keine Macht haben, sich zu verstellen.“ Nüchternheit ist die höchste Form der Verstellung. Sie ist die Voraussetzung für jene hyper-optimierte, vorsichtige Rhetorik, die wir heute als „Professionalität“ zelebrieren, aber insgeheim als soziale Lüge entlarven. Oder einfacher gesagt: Die Essenz zahlloser LinkedIn-Bios.
Man könnte ketzerisch behaupten: Die gesamte Geschäftswelt würde effizienter operieren, wenn sämtliche Verträge nach dem zweiten Glas Wein unterzeichnet würden – oder nach dem fünften, je nachdem, wie ernst man die Wahrhaftigkeit nimmt. Dann hätten wir Ehrlichkeit als Standard, anstatt sie mühsam in 50-seitigen Protokollen zu suchen. Ein guter Barkeeper weiß, dass die wahren Gefühle und die echten Lebensweisheiten erst dann geäußert werden, wenn die Filterfunktion des Verstandes eine elegante Pause einlegt. Die nüchterne Version ist lediglich der kontrollierte PR-Entwurf.
In vino veritas ist somit mehr als ein lateinisches Zitat. Es ist die Anleitung zum Vertrauensaufbau. Die alten Griechen verachteten die Nüchternen als kaltblütig und kalkulierend – weil nur wer sich exponiert, die notwendige menschliche Unvollkommenheit zulässt.
Sie beraten, wenn sie keine Macht haben, sich zu verstellen.
Die kognitive Einkehr: Wenn die Überkontrolle die Seele lähmt
Als jemand mit einem Hintergrund in analytischen Systemen (Software Engineering) weiß ich: Ein System, das zu perfekt optimiert ist, ist unfähig zur Innovation. Es reproduziert lediglich definierte Muster. Die sanfte Dämpfung des Frontallappens durch Ethanol ist genau jener notwendige systemische Kniff, der die kreative Exception auslöst.
Die Hemmschwelle hält uns nicht nur von Peinlichkeiten ab – sie hält uns von Genialität ab. Die wahren Durchbrüche erfordern oft den mutwilligen Sprung über die Klippe der Konvention. Zweifellos wäre es vermessen, jede Meilensteinleistung dem erhöhten Blutalkoholspiegel zuzuschreiben. Aber das Feld der unbelegten Hypothesen ist eben verführerisch groß.
Die größten Ideen entstehen selten in einem effizienten, trockenen Meeting, sondern oft in der späten Stunde, wenn die interne Zensur-Software kurzzeitig auf Standby geschaltet wird. Der Rausch ist die notwendige Ineffizienz, das menschliche Chaos, das uns vor der sterilen Diktatur der Logik rettet.
Die Forderung, stets vollkommen rational und absolut kontrolliert zu agieren, ist nicht nur unmenschlich, sondern ein direkter Weg zur kognitiven Erstarrung. Man berauscht sich an der Illusion der perfekten Kontrolle und eliminiert damit die Fähigkeit, mit dem unvermeidlichen Chaos umzugehen.
Der Mythos der Nüchternen Authentizität: Die größte Täuschung
Ein unumgänglicher Einspruch in dieser Debatte kommt stets von jener Fraktion, die in der glücklichen – und meist unreflektierten – Annahme lebt, sie seien auch ohne diese toxische Hilfe vollkommen authentisch. Sie behaupten, der Alkohol verzerrre nicht nur die Realität, sondern auch das wahre Ich.
Hier müssen wir mit der ganzen intellektuellen Wucht des Barkeepers intervenieren. Die Realität ist eine Verzerrung. Sie ist die Summe aus sozialen Erwartungen, beruflichen Masken und der pathologischen Angst, im öffentlichen Raum als unprofessionell zu gelten. Wer behauptet, immer und in jedem Setting zu 100 % authentisch zu sein, meint in Wahrheit: „Ich habe die Kunst der perfekten Selbstkontrolle so weit perfektioniert, dass meine kontrollierte Fassade nun als mein wahres Ich durchgeht.“
Die größte Illusion der nüchternen Authentizität ist, dass sie keine Entspannung benötigt. Sie impliziert, dass das Gehirn rund um die Uhr dieselbe Leistung und denselben Charakter-Output liefern kann. In der Gastronomie wissen wir: Wer keine Maske ablegen muss, der trägt sie so festgewachsen, dass er sie selbst nicht mehr spürt.
Das, was der Rausch verzerrt, ist nicht das wahre Selbst, sondern die aufwendige, energiezehrende Filterblase, die wir mühsam zwischen uns und die Welt gebaut haben. Wenn dieser Filter für einen Abend ausfällt, kommt nicht das Böse zum Vorschein, sondern oft das unvorsichtige, verspielte, ehrliche und vor allem fehlbare Selbst. Und die Zivilisation hat über Jahrtausende gelernt, dieses fehlbare, entlastete Selbst als vertrauenswürdiger einzustufen als die unermüdliche, unmenschliche Rationalität des ständig Kontrollierten. Die Ablehnung des Rausches ist oft nur die Furcht vor der eigenen, unkontrollierten Fehlbarkeit.
Die dunkle Eleganz: Verantwortung und das Scheitern des Ventils
Die Hochstilisierung des Rausches als zivilisatorisches Feature erfordert eine unverzichtbare Klarstellung, denn wahre Differenzierung ist der Maßstab intellektueller Seriosität. Wir sprechen hier nicht von der Selbstzerstörung oder dem pathologischen Konsum, der die Kontrolle über das Leben übernimmt.
Der Alkohol – oder jedes andere kognitive Ventil – ist ein Werkzeug. Und wie jedes mächtige Werkzeug kann es missbraucht werden. Diejenigen, bei denen das Ventil dauerhaft offen steht oder zerbrochen ist, verdienen unser ernsthaftes Augenmerk und unsere Sorge.
Die existenzielle Tragik des Missbrauchs besteht gerade darin, dass die betroffenen Personen die heilende Funktion des Rausches – die kurzfristige Entlastung, den sozialen Kitt – so dringend und unkontrolliert suchen, dass sie dabei die Fähigkeit zur Menschlichkeit paradoxerweise zerstören. Es ist das Scheitern des kulturellen Werkzeugs im Angesicht persönlicher Not.
Ihre Not ist jedoch kein Argument dafür, den gesamten gesellschaftlichen Mechanismus zu verurteilen, der seit Jahrtausenden für Konsens und Kreativität sorgt. Man schließt ja auch keine Autobahnen, nur weil einige die Geschwindigkeitsbegrenzung ignorieren. Statt das flüssige Substrat der Kultur generell zu verteufeln, müssen wir die individuellen Ursachen für dieses Scheitern ernst nehmen und jene stützen, die im Chaos des Überkonsums stecken geblieben sind. Die notwendige Sorge um diese Menschen darf niemals die intellektuelle Grundlage für die Ablehnung eines zivilisatorisch wichtigen Katalysators werden.
Die Zerbrechlichkeit der Nüchternen: Der Kitt des gemeinsamen Fehlers
Die nüchterne Gesellschaft neigt zur Hyper-Individualisierung und der pathologischen Vermeidung jeglicher Friktion. Der Trend zur vollständigen Abstinenz fällt mit dem Hang zur sozialen und professionellen Fragilität zusammen. Die Generation, die den Alkohol als „toxisch“ ablehnt, scheint auch jene zu sein, die am empfindlichsten auf toxische, sprich: normale, Belastung im Arbeitsleben reagiert.
Wir haben eine junge Kohorte erschaffen, die bestens darin geschult ist, alle externen Risiken zu vermeiden, aber jegliche Resilienz gegenüber internem Stress verloren hat. Sie sind wie Software, die nur in der Sandbox funktioniert. Man hat ihnen das wichtigste soziale Werkzeug vorenthalten: Die gemeinsame, fehlerhafte Menschlichkeit.
Der Rausch, die Theke, der gemeinsame Genuss – das ist der Ort, der diese Ego-Mauern elegant einreißt. Er verbindet den Manager und den Praktikanten durch eine gemeinsame, leichte Unvollkommenheit. Der Rausch fungiert als kurzer, chemischer Waffenstillstand mit der eigenen Paranoia und der des Nachbarn.
Was geschieht, wenn wir diesen sozialen Reset-Knopf eliminieren? Wir enden mit einer Gesellschaft, die unendlich verbittert und unverzeihlich ist, weil sie jeden Fehler im klaren, digitalen Speicher der Nüchternheit ewig festhält. Der Rausch erlaubt das Vergessen und somit die Vergebung – die Fähigkeit, am nächsten Tag weiterzumachen, ohne sich an jede kleinliche, nüchtern abgewürgte Gemeinheit erinnern zu müssen. Die Unfähigkeit zur Belastung ist vielleicht nur die logische Konsequenz der Unfähigkeit zur Fehlerhaftigkeit.
Ein Hoch auf das flüssige Substrat der Kultur
Auf die Menschheit! Möge sie niemals so rational werden, dass sie unfähig ist, die Belastungen des unperfekten Lebens zu ertragen.